Lipödem – Wie Körper und Psyche zusammenhängen

Geschrieben von Foodpunk Redaktion
12 Minuten Lesezeit
13. Mai 2022 zuletzt aktualisiert am 20. Februar 2024 von Annalena Gebhardt
Lipödem Lia Lindmann Psyche

Lia Lindmann ist Autorin von “Leichter leben mit Lipödem” und Lipödemberaterin. Nach vielen Jahren der Unsicherheit erhielt sie 2012 die Diagnose Lipödem. Seitdem hat sie sich intensiv mit der Erkrankung beschäftigt und Wege gesucht und gefunden, ihr Leben mit Lipödem zu verbessern. Hier gibt sie uns als Gastautorin einen Einblick.

Inhaltsverzeichnis

    2004 – ich war gerade 21 Jahre alt – sollte in Deutschland erstmals das Reality-Format “The Swan” laufen. 16 Frauen, die unter ihrem Aussehen litten, sollten in wenigen Monaten jeweils ca. 20 Operationen durchlaufen, am Ende vom hässlichen Entlein zum schönen Schwan werden. Und ich, 21 Jahre alt, Studentin und Hobbyschauspielerin, schrieb eine Bewerbung. Veränderung bis zur Unkenntlichkeit – das erschien mir damals erstrebenswert.

    “Reiterhosen”, “dicke Beine”, “unsportlich”, “faul”, – In einer Welt, in der überpräsente mediale Bilder suggerieren, man bräuchte einen perfekten Körper und lange, glatte, gesunde Beine, um ein beliebter Partygast, ein attraktiver Lebenspartner oder ganz allgemein liebenswert und interessant zu sein, erleben Frauen, die von der Fettstoffwechselerkrankung Lipödem betroffen sind, häufig Fremd- und Selbstablehnung. “Ich bin unförmig. Ich habe keine Kontrolle über meinen Körper.” So ging es auch mir damals. Füllige Oberschenkel und Beine werden von unserem Umfeld oft mit selbstverschuldeter Inaktivität, Unattraktivität und sogar begrenzter Intelligenz assoziiert. Gleichzeitig wird die Erkrankung als „Na, du hast halt dicke Oberschenkel, ja und?“ heruntergespielt.

    Trotz Diät, gesunder Lebensweise, Bewegung “disproportional”: Während das Gesicht vielleicht ganz schmal ist, wuchert an anderen Körperstellen das Fettgewebe ohne eindeutige Ursache. Täglich spreche ich mit Frauen, die mir sagen: “Ich kann mich einfach nicht akzeptieren.”

     Auch Frauen ohne Lipödem können von diesem psychischen Leidensdruck betroffen sein. Zu beachten ist aber auch, dass viele Frauen bisher keine Diagnose erhalten haben. Wer sich in diesem Text also wiedererkennt, sollte ärztlich abklären lassen, ob möglicherweise eine Lipödemerkrankung oder eine Lipohyperplasie vorliegen.

    1. Hoher Leidensdruck – Scham und Ablehnung

    Laut einer Umfrage unter Patientinnen in Hannover geben 84 Prozent der Befragten an, bei sozialen Aktivitäten Scham zu empfinden, sich selbst auszugrenzen oder allgemein ungern aktiv zu sein. 77 Prozent gaben an, beim Essen in der Öffentlichkeit Schamgefühle zu empfinden oder sogar gänzlich auf öffentliches Essen zu verzichten. 62 Prozent sagen: “Ich sehe meinen Körper als Feind.”

    Lipödem und Psyche

    2. Vorurteile sind weit verbreitet

    Frauen mit Lipödem spüren häufig, dass sie mit Vorbehalten wahrgenommen werden. „Will die wirklich so an den Strand?“, „Die würde mir ja nicht gefallen.“, „Die könnte auch mal mehr Sport machen.“ Vorurteile hohem oder unproportional verteiltem Gewicht anderer Menschen gegenüber sind laut den Gesundheitswissenschaftlern Hand, Robinson und Creel von den Universitäten in Alabama, Mississippi und Louisianna so weit verbreitet wie ausländerfeindliche Vorurteile und zeigen sich in Form von abwertender Haltung höhergewichtiger Menschen in sozialen Beziehungen, im Bereich der Bildung, in Beschäftigung und Gesundheitsversorgung. Das führt ihren Untersuchungen zufolge dazu, dass übergewichtige Menschen an den Rand der Gesellschaft gedrängt und stigmatisiert werden.

    Eine Studie der Harvard Universität belegt dies: Obwohl wir als Gesellschaft in vielen Bereichen Vorurteile abgebaut haben, trotz Body-Positivity-Bewegung und Plus Size Models sind solche Vorurteile in den letzten 20 Jahren sogar noch gestiegen. Explizite Vorurteile gegenüber Körperfett sind zwar gesunken, doch die impliziten Vorurteile – also die, über die sich die Probanden nicht bewusst sind – stiegen. Kurzum: Die Menschen sagen, die Körperform hätte keine Auswirkung auf ihre Einschätzung einer Person, unbewusst benachteiligen sie aber trotzdem fülligere Personen bei Partnerwahl, Karriereförderung und sogar ärztlicher Versorgung.

    Ärzte glauben Patienten mit hohem Körperfettanteil häufig nicht, dass sie genügend für ihre Gesundheit tun oder dass sie sich nicht an medizinische Anweisungen halten. Sie unterstellen ebenfalls häufig eine Selbstverschuldung, bieten daher weniger Behandlungsmöglichkeiten an und suchen nicht nach anderen möglichen Ursachen für die Beschwerden. So bleiben körperfettbezogene Erkrankungen oft undiagnostiziert und unbehandelt. Vor diesen Effekten warnen unter anderem Dr. Rebecca Puhl, klinische Psychologin und Leiterin des Rudd Centers für Lebensmittelregulierungen und Übergewicht sowie Judy Swift, Professorin für den Bereich Ernährungsverhalten an der Universität Nottingham. Bei Lipödem dauert es meist mehr als zehn Jahre bis eine Diagnose gestellt wird. Noch heute erhalten viele Betroffene gar keine Diagnose.

    3. Ein innerer Kampf

    So aufgeklärt und aufmerksam viele von uns auch sind: Die gesellschaftliche Denkweise, dass Körperfett und Negativität gekoppelt sind, nagt am Selbstbewusstsein und kann sich so sehr verinnerlichen, dass wir auch mit uns selbst nur noch in kritischem, vorwurfsvollem Ton sprechen. Nicht wenige Betroffenen berichten von tiefer Trauer oder intensivem Selbsthass, der sie beim Gedanken an ihren Körper oder beim Ansehen eines Fotos schwer belastet. Nicht selten weitet sich dieser Selbsthass auch auf andere Bereiche des Lebens aus: Im Beziehungs- und Arbeitsleben versuchen Betroffene mehr und mehr zu geben, sie erschöpfen sich. Essstörungen treten in Zusammenhang mit Lipödem häufig auf, da Essen entweder überkontrolliert und kasteiend eingesetzt wird, um den eigenen Körper zu bezwingen; oder es wird in Form von Selbstaufgabe, Selbstbestrafung oder Seelentrost im Übermaß konsumiert. Eine Untersuchung in einer Schwerpunktpraxis für Lipödeme in Bayern ergab, dass dort 74 Prozent der Patientinnen zusätzlich an einer Essstörung litten.

    Der australischen Psychologin Dorothy Rowe zufolge kann man schnell von Trauer in Depression geraten: „Um natürliche Trauer in Depression zu verwandeln, braucht man nur eine Komponente zu verändern: Sich selbst für die Katastrophe verantwortlich zu machen, die einem widerfahren ist.“ Bei Krankheit fragen wir uns „Warum ich?“ und kommen oft nur zu selbstverurteilenden Schuldvorwürfen, die uns dann begleiten. Wir machen uns für unsere Erkrankung verantwortlich und begünstigen so, dass aus Trauer Depression wird.

    Meine Psychotherapeutin in einer Lymph-Klinik erklärte mir, dass dem Schmerz und allen Vorgängen das erweiterte biopsychosoziale Modell zugrunde liegt, das Körper und Seele untrennbar sind. Wenn ich durch immer wiederkehrende Ablehnung durch die Krankenkassen, den Kampf, die Unverstandenheit und die Diskriminierung durch andere ständig negativ an meine Erkrankung erinnert werde, spüre ich den Schmerz auch stärker. Das liegt nicht daran, dass ich es mir einbilde oder einrede sondern daran, dass Stress, Ärger und Depression einen anderen Hormon- und Botenstoffcocktail ausschütten, der Schmerz nicht so gut regulieren kann wie die Kombinationen eines innerlich ruhenden, mental gesunden Körpers.

    4. Schmerz und Psyche

    Laut einer Studie von Dr. Josef Stutz ordnen 80 Prozent seiner Patientinnen ihren körperlichen Schmerz auf einer Skala von 0 (kein Schmerz) bis 10 (nicht aushaltbar) bei über 5 Schmerzpunkten ein. Bei den seelischen Schmerzen sind die Ergebnisse noch dramatischer: 72 Prozent der betroffenen Frauen ordnen ihre seelischen Schmerzen auf den höchsten Werten 8-10 ein. Dr. Stutz zufolge führt die erlebte Abwärtsspirale aus Selbstablehnung, Vorwürfen, Mobbing, Schwierigkeiten bei Partnersuche und Sexualität sowie medizinischer Hoffnungslosigkeit und Schwierigkeiten mit Ärzten und Kassen bei acht Prozent seiner Patientinnen zu Suizid oder Suizidversuchen.

    Lipödem leichter leben

    5. Wie Psychotherapie helfen kann

    Es ist wichtig zu erkennen: Wer ein Lipödem hat, hat oft im wahrsten Sinne des Wortes ein schweres Paket mit sich zu tragen. Sich Hilfe zu suchen ist nicht nur keine Schande, sondern sollte ohne Hemmung als Teil der Therapie wahrgenommen werden. Doch viele Lipödempatientinnen erhalten keine adäquate psychotherapeutische Hilfe. Und Betroffene trauen sich oft nicht, danach zu fragen. Gefühle von Schuld und Scham halten sie davon ab, sich helfen zu lassen. “Ich brauche keine Psychotherapie”, denken sie “ich muss mich einfach nur zusammenreißen.” Zwar bieten einige Rehakliniken als Ergänzung zur Entstauungstherapie einzelne Stunden Psychotherapie an, einige Psychotherapeutinnen sind auf Gebiete spezialisiert, die an das Lipödem angrenzen: Ein gestörtes Körperbild, Essstörungen, Minderwertigkeitskomplexe, Schwierigkeiten in Sexualität und Partnerschaft, soziale Isolation und Dysthymie; doch insgesamt gibt es zu wenig Therapieplätze und zu große Hemmschwellen.

    Die typische hormonelle Lage des Lipödems begünstigt leider auch depressive Verstimmungen und Angststörungen. Häufig tritt nämlich gemeinsam mit Lipödem eine Unterfunktion der Schilddrüse auf, im Verhältnis zum Progesteron ist das Östrogen im Körper aktiver. Stress, der ebenfalls die Hormonbalance verschiebt, ist für viele ein ständiger Begleiter.

    Spezialisiert auf Psychotherapien bei Lipödem ist Dr. Joanna Dudek von der Warschauer Universität der Sozial- und Geisteswissenschaften, die ich für “Leichter leben mit Lipödem” interviewt habe. Lebensqualität und Lebenszufriedenheit bei Betroffenen werden ihrer Forschung nach besonders von Akzeptanz- und Handlungsfähigkeit positiv beeinflusst. Diese lassen sich in einer Psychotherapie oder in einem spezialisierten Coaching trainieren. Auch soziale Verbundenheit mit anderen spielt eine große Rolle und kann vor allem in einer funktional analytischen Psychotherapie geschult werden.

    6. Körpertherapeutische Verfahren

    Körpertherapeutische Verfahren enthalten Elemente von Achtsamkeit für den Körper, Übungen für den Körper, körperliche Berührung und Reflexion. Grundannahme ist, dass gewohnte Empfindungen und Überzeugungen, sozusagen unser Weltbild über uns selbst und andere körperlich gespeichert sind und auch körperlich gelöst werden müssen. Die Vorstellung „Ich bin nicht liebenswert“ kann sich beispielsweise in einer Körperhaltung einspeichern und mit dem Verstand nicht gelöst werden, solange der Körper an ihr festhält.

    Die Lipödemberatung, die ich seit drei Jahren anbiete, vereint Aspekte dieser Methoden. Die Psyche bekommt viel Raum. “Endlich verstanden werden!” Das ist für viele eine riesige Erleichterung.

    Wenn du noch nicht bereit bist, Beratung oder Psychotherapie anzunehmen, kannst du einige Dinge allein probieren. Wenn sie dir aber unmöglich erscheinen, dann traue dich, dir Hilfe zu suchen.

    7. Was du für deine Psyche tun kannst

    11 Tipps von Lia

    8. Schnellhilfe-Tipp: Ruhig und tief Atmen

    Wer ruhig und tief atmet, kann gar nicht so viele Stresshormone ausschütten, wie jemand der flach und schnell atmet. Es ist quasi unmöglich. Für uns Frauen mit Lipödem hat das Atmen noch einen weiteren Sinn. Es geht in unserem Körper darum, Durchlässigkeit zu erreichen. Damit die Lymphe fließen kann. Damit wir loslassen können, was uns belastet. Wenn wir tief atmen, dann machen wir den Weg frei für Durchlässigkeit. Zumindest am Oberkörper sind wir dann schon mal nicht mehr angespannt und gestaut. Wenn man die Umkehrprobe macht, merkt man es ganz deutlich: Halte die Luft an. Fühlt es sich nicht so an, als ob nun im Körper quasi alles stillsteht?

    Leichter leben mit Lipödem von Lia Lindmann

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    Du möchtest mehr über das Thema Lipödem erfahren? Dann schau dir unsere Artikel “Lipödem: Wenn Fettzellen außer Kontrolle geraten” oder “Durch ketogene Ernährung das Lipödem lindern” an. Wirf auch gerne mal einen Blick in unser Foodpunk Lipödem-Ernährungsprogramm.

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    Unsere Gastautorin Lia Lindmann ist Autorin von “Leichter leben mit Lipödem” und Lipödemberaterin. Nach vielen Jahren der Unsicherheit erhielt sie 2012 die Diagnose Lipödem. Seitdem hat sie sich intensiv mit der Erkrankung beschäftigt und Wege gesucht und gefunden, ihr Leben mit Lipödem zu verbessern. Für “Leichter leben mit Lipödem” hat sie unzählige Expertengespräche geführt und neueste Erkenntnisse aus Lymphologie, Endokrinologie, Psychologie, Gynäkologie, Ernährungswissenschaft, Physiotherapie und Schmerzmedizin zusammengetragen. Lia Lindmann arbeitet als Pädagogin und Journalistin und wurde von Institutionen wie den Vereinten Nationen und UNESCO gefördert. “Leichter leben mit Lipödem” gibt es als Buch im Handel und als siebenteiligen Selbsthilfekurs direkt bei der Autorin.

    Bildquelle: Das Titelbild des Artikels ist beim Fotoshooting “Kämpferliebe” mit Natalie Koch entstanden.

    Der Artikel wurde geschrieben von

    Foodpunk Redaktion

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